Das Ost-West-Denken wird sich auswachsen

David Bartusch

 

Die „spannende Zeit“ rund um die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten beginnt für David Bartusch und seine Familie schon lange vor dem 9. November 1989. „Mein Vater hatte Mitte der achtziger Jahre einen Ausreiseantrag gestellt“, erzählt das Vorstandsmitglied der Öffentlichen Versicherungen Sachsen-Anhalt (ÖSA). „Wir saßen immer irgendwie auf halb gepackten Koffern.“ David Bartusch wird 1972 im sächsischen Bautzen geboren und ist im Wendejahr 1989 gerade mit der Schule fertig. Wegen des Ausreiseantrags kann er in der DDR kein Abitur machen, also beginnt er eine Ausbildung zum Heizungsinstallateur. „Über familiäre Verbindungen bin ich an die Lehrstelle gekommen. Das war so gar nicht mein Wunschberuf, doch ich habe es durchgezogen.“ Der gebürtige Sachse sagt über diese Zeit, er habe „menschlich und handwerklich viel fürs Leben gelernt.“ Die theoretische Ausbildung ist in Dresden, wohnen tut er zu dieser Zeit in Pirna. „Ich habe Züge mit tausenden von Menschen gesehen, die aus der DDR geflüchtet sind. Da war was in Gange, aber es gab auch diese gebremste Euphorie. Es wusste ja niemand, wie der Staatsapparat reagiert.“ Als die Mauer tatsächlich fällt, sei das „eine große Befreiung“ gewesen. „Für alle Menschen, und auch für mich.“ Sein Vater geht nicht in den Westen, sondern entschließt sich bewusst, im Osten zu bleiben.

David Bartusch holt nach der Wende das Abitur an einer Fachoberschule nach und beginnt im Anschluss ein Studium der Wirtschaftsmathematik an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig. „Ich wollte mich irgendwie spezialisieren“, sagt der zweifache Familienvater. Seine aus Brandenburg stammende Ehefrau studiert zeitgleich Pharmazie in Halle. 1998 ist für David Bartusch die Studentenzeit vorbei. Es folgen berufliche Stationen in Köln und Hannover, wo er als Wirtschaftsprüfer arbeitet und erste Berührungspunkte mit der ÖSA hat. 2005 kommt die Familie nach Magdeburg. In eine Stadt, über die David Bartusch nach eigener Aussage zunächst durchaus Vorbehalte hegt. „Man sah auf der Durchfahrt immer diese Plattenbausiedlungen. Da war viel grau und wenig grün.“ Doch aller Skepsis zum Trotz, folgt der Diplom-Mathematiker und Aktuar dem „Ruf der ÖSA“ und stellt sich in Magdeburg beruflich neu auf. „So, wie ich ticke, war das einfach die optimale Konstellation. Die Konstruktion Versicherung hat mich schon immer interessiert. Heute denke ich, dass dieser Weg schon im Studium vorgezeichnet war.“ Bei der ÖSA wird er Abteilungsleiter Leben/Unfall, dann Generalbevollmächtigter und am 1. Januar 2014 Vorstand. 1991 gegründet, hat die ÖSA als öffentlich-rechtlicher Versicherer und einziges Branchenunternehmen mit Sitz in Sachsen-Anhalt heute mehr als 400.000 Kunden im Bestand.

In diesem Jahr feiert Familie Bartusch in Magdeburg ihr Zwanzigjähriges. Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt ist längst ihre Heimat geworden. Ist Deutschland ein vereintes Land? David Bartusch beantwortet die Frage so: „Das ist ganz klar eine Generationenfrage. Das Ost-West-Denken wird sich auswachsen, das braucht so ein, zwei Generationen. Ich wünsche es mir sehr.“ Als er als „Ossi“ in Köln und Hannover gearbeitet hat, habe er sich nie unwohl gefühlt. „Ich weiß aber auch, dass einige Menschen andere Erfahrungen gemacht haben.“ Wenn die Wende nicht gekommen wäre, sinniert der Wahl-Magdeburger, wäre dem Wunsch seines Vaters nach Ausreise aus der DDR sicher irgendwann stattgegeben worden. „Zwei meiner Tanten waren ja schon ausgereist und wohnten in der Nähe von Hamburg. Da wären wir dann sicher auch gelandet.“

Magdeburg biete viel und habe vieles richtiggemacht. „Da gab und gibt es Visionen und den Mut, sie Realität werden zu lassen“, sagt David Bartusch. Er wünscht sich, dass sich seine aktuelle Heimatstadt noch besser präsentiert und selbstbewusster auftritt. Neuerliche Rückschläge wie der rund um Intel seien eine Chance, weiter Schritt für Schritt nach vorn zu gehen. „Intel hat sich aus gutem Grund für Magdeburg entschieden. Jetzt muss es uns gelingen, diese Phase bestmöglich zu nutzen.“


In Magdeburg ein neues Zuhause gefunden

Prof. Dr. Heike Walles

 

Jedes Mal, wenn sich Familie Walles dem größten Grenzübergang an der innerdeutschen Grenze in Marienborn nähert, gibt es im Auto von den Eltern eine Ansage an die Kinder auf der Rücksitzbank: „Jetzt wird nicht gescherzt. Benehmt euch!“ Regelmäßig stehen Besuche bei Verwandten in Ost-Berlin an und das Passieren der Kontrollpunkte ist Heike Walles, die 1962 in Wiesbaden geboren wird, in starker Erinnerung geblieben. „Als ich das wirklich mitgekriegt habe, vielleicht so mit zehn Jahren, da hat sich das einfach abgespeichert. Bis heute.“ Als sich die Grenzen am 9. November 1989 öffnen, sei das „unglaublich berührend und zuweilen unreal“ gewesen, sagt die Biologie-Professorin, die heute an der Fakultät für Verfahrens- und Systemtechnik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg arbeitet und erfolgreich forscht. „Ich habe die Demos damals mitbekommen. Es war unfassbar mutig von den Menschen, trotz Drohungen und möglicher persönlicher Nachteile auf die Straße zu gehen.“ 30 Jahre später kommt sie wieder mit der Angst und den großen Hoffnungen von damals in Verbindung: Bei der Stadtrauminszenierung „UTOP89 – und wer kümmert sich jetzt um die Fische?“ (Konzept: Meret Kiderlen/Kim Willems) des Theaters Magdeburg. „Das waren Spaziergänge mit Kopfhörern durch die Stadt, mit vielen berührenden und beklemmenden Momenten“, erinnert sich die zweifache Mutter.

Heike Walles studiert nach dem Abitur Biologie in Freiburg und Gießen. Über Stationen in Hannover, wo sie ihre Juniorprofessur ablegt, Stuttgart und Würzburg kommt sie 2018 nach Magdeburg an die hiesige Universität. Anlass ist ein beruflicher Wechsel ihres Mannes, der seit 2017 die Thoraxchirurgie am Magdeburger Universitätsklinikum leitet. Magdeburg ist damals für beide „die große Unbekannte“. „2016 sind wir für ein verlängertes Wochenende hier gewesen, um zu gucken. Wir hatten wirklich bis dahin kein Bild von Magdeburg“, erzählt Heike Walles, die seit 2010 bis 2012 Mitglied des Deutschen Ethikrates war. „Wir haben uns Fahrräder ausgeliehen und alles erkundet. Das hat uns überzeugt. Wir wollten beide an diesem Standort arbeiten, ohne jede Pendelei.“ In diesem Moment, so schätzt die Biologin heute, habe sie „reflektiert, dass der Osten so viel mehr ist, als Berlin.“ Heike und Thorsten Walles sind gewillt, als „Dual Career Couple“ in Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt Fuß zu fassen. „Heute wissen wir, dass uns das wunderbar gelungen ist und wir angekommen sind.“ Magdeburg habe als „kleine Großstadt“ ihren ganz eigenen Charme und ihre ganz eigenen Vorteile. „Was im Übrigen auch für die Otto-von-Guericke-Universität gilt“, sagt Heike Walles mit einem zufriedenen Lächeln.

Der Hochschulwechsel von Würzburg in Bayern nach Magdeburg geht für Heike Walles mit der erfolgreichen Versetzung ihrer Professur einher. An der Otto-von-Guericke-Universität sei es einfacher zu netzwerken und Expertisen zu bündeln. „Ich bin ein großer Fan interdisziplinärer Arbeit.“ Als Leiterin der Core Facility Tissue Engineering lebt sie Beruf und Berufung – in einem kleinen Team und mit sehr anwendungsorientierter Forschungsausrichtung. Heike Walles ist spezialisiert auf Gewebezucht, also auf die künstliche Herstellung biologischer Gewebe durch Zellkultivierung, um kranke Gewebe zu regenerieren oder gar neu zu ersetzen. Neben der Transplantationsmedizin kommen die Gewebezüchtungen zum Beispiel auch in der Krebsforschung zum Einsatz. „Ganz neu ist, dass wir eine kleine Firma ausgegründet haben, um sichtbarer zu werden. Die von der Otto-von-Guericke-Universität gehaltenen Patente konnten dafür erfolgreich auslizensiert werden.“

Kommen heute im Umfeld des Ehepaars Walles Ost-West-Diskussionen auf, so hören sie oft mit einem Augenzwinkern: „Ach ihr! Ihr seid doch schon ossimiliert.“ „Und es stimmt“, sagt Heike Walles, die zentral im neuen Domviertel wohnt und sich grundsätzlich über medial forcierte Ost-West-Ansichten und überholtes Schubladendenken ärgert. „Wir haben hier mittlerweile einen Wohlfühlstatus erreicht, den wir in Bayern nie hatten.“ Würzburg, von wo aus sie nach Magdeburg gekommen sind, sei „sehr eingefroren“. In Magdeburg gehe es nach vorn. „Wir lieben die Kulturszene und an der Elbe Fahrrad zu fahren. Mein Mann und ich können uns sehr gut vorstellen, hier alt zu werden.“