Ostalgie und durchgerubbelte Levis-Jeans
Jörg Heinecke
Kommt Jörg Heinecke über die aufregende und schnelllebige Wendezeit ins Sinnieren, so malt er ein Bild mit den berühmten Türen, die plötzlich offenstanden. „Und ich bin bis heute nicht durch alle hindurch“, sagt der Geschäftsführer der Magdeburger Orthopädie-Technik GmbH (MOT) mit einem Schmunzeln. Und auch, wenn es in der DDR kaum offene, beziehungsweise zu öffnende Türen gegeben hat, so sagt der gebürtige Magdeburger über diese Zeit: „Alles, was der Osten geboten hat, haben wir als Kinder und vor allem als Jugendliche mitgenommen. Und einmal im Jahr hat Oma eine Levis Jeans aus dem Intershop spendiert - da war die aus dem Vorjahr schon lange durchgerubbelt.“ Als SED-Politbüromitglied Günter Schabowski am 9. November 1989 seine berühmte „Sofort, unverzüglich“-Pressekonferenz hält, sitzt der junge Jörg Heinecke vor dem Fernseher. „Das war schon komisch. Da ist einfach ein Staat von der Bildfläche verschwunden. Da stand einfach mal eine komplette Neuorientierung an.“
Im Jahr 1990 wird für alle alles anders. „Ich erinnere mich natürlich an den 3. Oktober, denn das ist mein Geburtstag.“, lacht er. Damals sei etwas zu Ende gegangen und alle hätten noch einmal nach hinten geschaut und sich gefragt, was da eigentlich gewesen sei. „Und nach vorne haben wir gehofft. Wir waren alle in Aufbruchstimmung. Wir wollten die Welt sehen“, erzählt der dreifache Familienvater, dem dazu Schlagworte wie Zuversicht, Freude und Euphorie einfallen. „Wir hatten väterlicherseits Verwandtschaft in West-Berlin. Die konnten wir jetzt endlich besuchen.“
Weil er gute Zeugnisse und auch ein paar Kontakte hat, kann Jörg Heinecke zu DDR-Zeiten den Beruf des Kfz-Mechanikers lernen. Zu seiner Auto-Leidenschaft gesellt sich eine zweite: Fußball. „Ich stand im Tor in Fermersleben. Wir haben relativ hochklassig gespielt und waren alle sowas wie Halbprofis“, sagt er. Wie damals üblich, gibt es einen sogenannten Trägerbetrieb - und das war ein echtes Magdeburger Schwergewicht. „Unser Trägerbetrieb war das Schwermaschinenkombinat Karl-Liebknecht und ich habe über den Fußball im SKL eine Anstellung zum Krankenwagenfahrer bekommen.“ 1988 heiratet Jörg Heinecke, der heute Vater zweier Söhne und einer Tochter ist und in einem Dorf nahe der Landeshauptstadt wohnt.
Noch im Wendejahr wagt er den mutigen Schritt in die Selbstständigkeit – und das noch Wochen vor dem 3. Oktober. Sein Schwiegervater, damals Abteilungsleiter im Pharmazeutischen Zentrum, gibt dafür den entscheidenden Impuls. Warum kein Sanitätshaus? Jörg Heinecke sagt ja, sieht das Potenzial und den Bedarf in Magdeburg. Und er sieht, dass er sich mit einem in der Branche erfahrenen Unternehmen „aus dem Westen“ zusammentun muss. „Es gab einige, die mich gewarnt haben, doch meine Erfahrungen waren nur gute.“ Jörg Heinecke kooperiert mit dem alteingesessenen Sanitätshaus Kohlbauer in Braunschweig. Seine große Autoaffinität stellt er hinten an. „Ich habe den Weg damals gesehen und bin ihn gegangen. Und ich hatte auch keinen Drang, unser Unternehmen woanders als in Magdeburg anzusiedeln.“
Ohne Schabowski-Rede und anschließendem Mauerfall hätte Jörg Heinecke mit Sicherheit irgendwas mit Autos gemacht und seine sportliche Karriere als Fußballtorwart ausgebaut, schätzt er. „Aber die Zeit ist durch. Wir sollten da auch nicht mehr allzu oft in den Rückspiegel schauen.“ Mit Ostalgie kann er leben. „Ich finde das gut, weil mich das geprägt hat. Trotzdem ich will die DDR nicht hypen. Das war einfach nur `ne große SED-Bubble.“ Vereint sei Deutschland „im Großen und Ganzen“ schon und er merke an seinen drei Kindern, wie Ost und West immer mehr ineinander verflochten werden. „35 Jahre reichen noch nicht, um zwei Staaten auf eine Ebene zu kriegen“, sagt Jörg Heinecke, der auch Vorstand im Verein Lebenshilfe für Menschen mit Behinderung Magdeburg e. V. ist.
Seine Geburts- und Heimatstadt Magdeburg liebt und schätzt er. Vor allem die sportlichen Erfolge, mit denen die Stadt nach außen strahlt. „So viele Sportarten auf allerhöchstem Niveau. Da hängen wir einfach nirgends hinterher.“ Magdeburg werde sich immer weiterentwickeln.
Gestalterin mit Weitblick
Christa Dieckmann
Der Tag des Mauerfalls wird für Christa Dieckmann immer eng mit ihrer Studienzeit in Bayreuth verbunden bleiben. Am 9. November 1989 sitzt die Jurastudentin mit Freunden vor dem Fernseher – und traut ihren Augen kaum. „Wir hatten in den Wochen zuvor viel diskutiert und den Mut der Menschen bewundert, die in der DDR auf die Straße gingen“, erinnert sie sich. Dass sich die Grenze öffnen würde, dass Deutschland bald nicht mehr geteilt sein könnte – das erschien vielen unvorstellbar.
Was dann geschieht, beschreibt die gebürtige Cloppenburgerin als „positiv euphorisch“: Menschen strömen zusammen, Trabis hupen, Fremde liegen sich in den Armen. Für Christa Dieckmann, aufgewachsen im Nord-Westen Deutschlands, war die DDR bis dahin ein fernes Konstrukt – aus Erzählungen, Nachrichtenbildern, einer fernen Verwandten, die als Nonne in Mecklenburg-Vorpommern lebte. Eine echte Verbindung besteht nicht. Noch nicht. Nach dem Studium entscheidet sie sich bewusst dafür, genau dorthin zu gehen, wo vieles neu entstehen muss. Die frisch examinierte Juristin bewirbt sich gezielt im Osten Deutschlands. Der Gedanke, beim Aufbau der Verwaltungsstrukturen mitzuwirken, reizt sie – gestalten statt nur verwalten, wie sie es formuliert.
1992 tritt sie in den Landesdienst von Sachsen-Anhalt ein. Das ist nicht nur der Beginn einer erfolgreichen Karriere, sondern auch der Start einer persönlichen Verbindung zur Stadt Magdeburg. Zunächst leitet sie verschiedene Dezernate im damaligen Regierungspräsidium, seit 1998 ist sie im Innenministerium tätig. Heute bekleidet Christa Dieckmann die Position der Ministerialdirigentin im Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt. Zu ihrem Zuständigkeitsbereich gehören kommunale Angelegenheiten, Hoheitsangelegenheiten, Migration und Sport. Darüber hinaus ist sie als Landeswahlleiterin für die ordnungsgemäße Durchführung der Europa-, Bundestags- und Landtagswahlen verantwortlich.
Sie bereut nie, hierhergekommen zu sein– im Gegenteil. „Es hätte in all der Zeit nicht besser laufen können“, sagt sie mit Blick auf über drei Jahrzehnte im öffentlichen Dienst. Dabei spielt für sie heute eine Unterscheidung zwischen Ost und West längst keine Rolle mehr. „Die Herkunft eines Menschen ist nicht entscheidend – entscheidend sind Haltung, Werte und der gemeinsame Wille, etwas zu bewegen“, betont sie. In ihrer täglichen Arbeit, im Umgang mit Kolleginnen und Kollegen, sei das Gemeinsame immer stärker spürbar gewesen als das Trennende.
Magdeburg ist für sie schnell mehr als nur ein Arbeitsort geworden, auch wenn sich der Einstieg nicht ganz einfach gestaltet: Die erste Zeit verbringt sie im sogenannten „Bauarbeiterhotel“, pendelt nach Niedersachsen und Bayreuth – doch bald wächst die Verbindung. „Ich fand die Menschen hier von Anfang an offen, freundlich, hilfsbereit“, erinnert sie sich. Es sind vor allem das gesellschaftliche Klima, die Kollegialität und die große Veränderungsdynamik, die sie bleiben lassen.
Die Stadt an der Elbe hat sich in den Augen Christa Dieckmanns beeindruckend entwickelt. „In den 90er-Jahren konnte man das Gesicht der Stadt nicht so richtig erkennen“, sagt sie, „doch für mich war es war klar, dass hier viel möglich ist.“ Sie erkennt früh das Potenzial und wird Teil des Wandels. Heute ist sie stolz darauf, diesen Weg mitgegangen zu sein. „Magdeburg ist grün, lebendig, vielfältig. Mit seinen kulturellen Wahrzeichen wie dem Dom und dem Hundertwasserhaus ist es ein Ort, der gewachsen ist und noch weiter wachsen wird.“
Magdeburg ist zu ihrem Lebensmittelpunkt geworden. „Ich kann mir nicht vorstellen, woanders zu leben“, sagt sie überzeugt. Die Mischung aus beruflicher Herausforderung, persönlicher Verwurzelung und städtischer Entwicklung mache für sie den Reiz aus. „Ich habe das Glück, in einer Stadt zu leben, in der man mitgestalten kann, das ist nicht selbstverständlich.“ Und für die Zukunft? Da ist sie zuversichtlich: „Magdeburg wird weiter wachsen. Diese Stadt hat noch viel vor sich. Und ich freue mich, weiterhin ein Teil davon zu sein.“