Zeiten des Aufbruchs

Thomas Pietsch

 

Voller Energie sammelt der SWM-Chef nach der Wende Erfahrungen – und setzt sie nun in Magdeburg um

Es gibt Momente, die man nie vergisst. Als Politbüro-Mitglied Günter Schabowski am 9. November 1989 live im Fernsehen verkündet, dass die neue Regelung zur Reisefreiheit für DDR-Bürger „ab sofort, unverzüglich“ gelte, kann Thomas Pietsch es kaum fassen. Was dann folgt – Mauerfall, Wiedervereinigung, Transformation – prägt sich tief ins Bewusstsein des Magdeburgers ein. „An so etwas war nie zu denken gewesen“, sagt er.

1989 sitzt der heutige SWM-Geschäftsführer als Angehöriger der Nationalen Volksarmee in einer Kaserne. Die Stimmung ist seit Monaten von Unsicherheit geprägt. Er erinnert sich an eine „intensive Zeit, wo jederzeit alles hätte passieren können“. „Wir hatten uns schon überlegt, was wir tun, wenn uns Befehle erteilt werden, die wir nicht ausführen wollen. Gewalt oder sogar Bürgerkrieg waren damals nicht ausgeschlossen.“ Doch es geht gut aus: Die Revolution verläuft friedlich.

Als wenige Monate später am 3. Oktober 1990 die Deutsche Einheit gefeiert wird, steht Thomas Pietsch in Hötensleben direkt im einstigen Grenzgebiet und schaut ins knisternde Lagerfeuer, um das sich Gäste gescharrt haben. Sie erleben entspannt ein Ereignis, das lange unerreichbar schien. Mit der politischen Wende ändert sich einiges im Leben des Elbestädters. Nun kann er doch noch studieren. Zu DDR-Zeiten war ihm das verwehrt worden, darum lernt Thomas Pietsch zunächst den Beruf des Gießereifacharbeiters im „Schwermaschinebau Karl Liebknecht“ und macht parallel sein Abitur.

In der Zeit des Aufbruchs studiert der Tüftler dann an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg im Bereich Thermischer Maschinenbau/Energietechnik. Die Welt ist plötzlich groß geworden, der Geldbeutel des Studenten allerdings schmal. Darum zieht er nicht gleich los, bleibt in seiner Heimatstadt und wohnt in einer günstigen Wohnung. Später heuert das technische Talent als Werkstudent in Hamburg bei der SIEMENS AG an. Für das Unternehmen betreut er 1992 Abu Dhabi ein großes Projekt, 1995 macht er seinen Abschluss. Er sammelt fleißig Berufserfahrungen – weiter bei SIEMENS, später als Block-Ingenieur bei der Volkswagen Kraftwerk GmbH. Diesen Schritt beschreibt der SWM-Chef heute als Start auf seinem „Weg in die Energiewirtschaft“.

Wenn Thomas Pietsch auf seinen Werdegang blickt, spricht er von „einer Ansammlung glücklicher Zufälle“. Dazu zählt auch das Traineeprogramm bei der Energieversorgung Magdeburg AG und später seine Tätigkeit als Prokurist der Avacon AG. Beruflich ist er viel unterwegs, doch Magdeburg bleibt sein „Hafen“. „Das war richtig so“, sagt der heutige SWM-Chef.

1999 – vor 25 Jahren – erhält er das Angebot, beim mehrheitlich kommunalen Unternehmen die Verantwortung für Vertrieb und Handel zu übernehmen. Eine Weichenstellung in seinem Leben. Lange zögert er nicht: Die Position klingt vielversprechend, gleichzeitig wird sein erster Sohn geboren, das private Umfeld passt, der Freundeskreis wächst. Pietsch sagt zu – und sieht sich direkt mit der Liberalisierung des Energiemarkts konfrontiert. Er positioniert die SWM als bundesweiten Anbieter für Strom und Gas. Anfang 2021 übernimmt der Magdeburger die Geschäftsführung.

„Ich liebe diesen Job“, sagt er und fragt sich manchmal, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn es nicht zur Wiedervereinigung gekommen wäre. „Ich hätte versucht, zu studieren, mich zu qualifizieren und weiterzubilden“, sagt der 56-Jährige. „Das liegt mir im Blut“. Genau wie seine Verbundenheit zur Ottostadt, wo sich der Ruderer im Vorstand des SC Magdeburg engagiert und 2024 selbst die Bronzemedaille in der Weltmeisterschaft gewonnen hat. Von hier wegzugehen, ist in all‘ den Jahren nie eine Option. Er schwärmt: „Unsere Stadt hat sich stark positiv gewandelt. Allein die Transformation des Stadtbildes! Heute wird Industriekultur wiederbelebt, vieles ist bunt, Stadtteile wie Buckau blühen auf.“

Ein bauliches Highlight setzt die SWM mit der Fertigstellung im Jahr 2021 selbst. Das Unternehmen verwandelt den „Blauen Bock“ im Herzen der Stadt in einen modernen Arbeitsplatz für rund 350 Mitarbeitende sowie in ein Kunden- und Veranstaltungscenter. Darauf sei er sehr stolz, sagt Thomas Pietsch. Und: „Manchmal sind wir im Osten ein bisschen zu bescheiden. Dabei haben wir in den vergangenen 35 Jahren Großartiges geleistet – und tun es noch“.


Grenzenloser Optimismus

Anja Leiß

 

Ost oder West? Wer möchte das schon noch unterscheiden? Für Anja Leiß ist das eine rhetorische Frage. Die Antwort steckt bei ihr im Leben und in der Familie. Die heutige Schulleiterin der Evangelischen Grundschule Magdeburg erblickt in Niedersachsen das Licht der Welt, wächst in Kassel auf. Ein Teil der Familie lebt damals auf der anderen deutschen Seite in Thüringen. Dazwischen die Grenze. Noch heute erinnert sich Anja Leiß daran, wie aufregend es war, zu Besuchen in die DDR zu fahren. Als Kind hat sie ein „sehr mulmiges Gefühl bei der Grenzkontrolle“. Das Mädchen findet eigene Wege, um die unzugängliche Mauer zu überwinden: Eine Postkarte von ihr segelt mit einem Luftballon aus Kassel bis nach Großfahner in Thüringen, wird dort von dem fast gleichaltrigen Dennis gefunden. Viele Jahre gehen Briefe von Ost nach West und umgekehrt. Die Familien verbinden freundschaftliche Bande. Im November 1989 „gibt es kein Halten mehr“. „Wir haben alle gemeinsam auf den Straßen gefeiert“, erinnert sich Anja Leiß.

Als Deutschland wieder vereint wird, studiert sie als junge Mama in Kassel Grundschullehramt. Später arbeitet sie als Lehrerin an einer Reformschule. Als ihr Mann 1999 eine Stelle in Magdeburg angeboten bekommt, schaut sie sich die ihr unbekannte Stadt erst einmal an. Heute erinnert sie sich vor allem daran, wie freundlich sie empfangen wurde: „Die Menschen waren unglaublich nett, und die ganze Stadt pulsierte vor Aufbruchstimmung.“ Magdeburg richtet da gerade die Bundesgartenschau aus. Der Elbauenpark, das Theater, die Elbe – und der spontan angebotene leckere Apfelkuchen beim Gespräch – all das gefällt der der jungen Frau, die sich einst als Kind geschworen hat, eine nette Schulleiterin zu werden. Zufälle führen sie zunächst an die Freie Montessori Schule – da war sie bereits mit „Leib und Seele Magdeburgerin“. Anja Leiß sagt: „Wir waren von Anfang an sehr glücklich hier.“ Ihr zweiter Sohn wird in der Elbestadt geboren. Sie lacht, wenn sie feststellt, dass nun ein Sohn Wessi und einer Ossi ist. Ein großer Teil der Familie hat sich „gut durchmischt“, meint Anja Leiß. So sind ihre Eltern aus Kassel inzwischen nach Rügen gezogen.

Ihr eigener Lebensmittelpunkt ist und bleibt Magdeburg. Hier hat sie ihre Berufung gefunden. Dabei tut sie sich damals anfangs ein wenig schwer damit, die Leitung der Evangelischen Grundschule zu übernehmen. Kein Wunder. Ihr Sohn ist 2004 noch klein – und die Herausforderung richtig groß: Die erste Schule ihrer Art wurde 2002 von Eltern gegründet, die Kindern den evangelischen Glauben näherbringen wollen. Es gibt keine Schablone. Das Schulgebäude in Stadtfeld ist noch nicht ausgebaut. Doch Anja Leiß wagt es, weil sie es mag, Neues auszuprobieren und weil Schulleiterin zu sein, immer schon ihr Traum war. Die Einrichtung in Trägerschaft eines Elternvereins wird unter ihrer Leitung staatlich anerkannt, das Gebäude über die Jahre saniert. Sie sind mit der Grundschule oft einen Schritt voraus, sind unter anderem schnell digitalisiert. Das außerschulische Leben ist geprägt von unzähligen Aktionen, Ambitionen und Veranstaltungen wie dem Sponsorenlauf, dem Chor oder der Nacht der Wissenschaft. Anja Leiß ist immer mittendrin, und wenn man fragt, woher sie die Kraft für das Engagement nimmt, sagt sie: „Ich habe eine wundervolle Familie, ein tolles Team und werde morgens schon von Kindern fröhlich angestrahlt. Unsere Schule ist immer in Bewegung.“

Und sie selbst hält auch nicht viel von Stillstand. „Die Netzwerke, die ich hier in Magdeburg aufbauen konnte, sind unglaublich“, meint Anja Leiß. Sie gehen längst weit über die Stadtgrenzen hinaus. So ist die Schule eng verknüpft mit Tansania, hat mit dem langjährigen Projekt „Education is the key of life“ ein Bildungszentrum im ostafrikanischen Land aufgebaut. Ringsherum gibt es immer wieder neue Projekte, Ideen und Wettbewerbe in der Evangelischen Grundschule. „Wir legen einfach Wert darauf, dass sich die Kinder früh mit einbringen, dass sie sich auch die Stadtgesellschaft integrieren, niemand ist zu jung dafür“, sagt die Schulleiterin. Sie wird scheinbar nie müde, Menschen zu zeigen, wie „wundervoll sich Magdeburg entwickelt hat“. „Es ist beachtlich, was sich hier seit der Wende getan hat“, meint sie. Und: „Ich bin wirklich stolz darauf, dass ich hier lebe.“